In der Fahrzeugerprobung auf Straßen und Prüfgeländen gehört der Unfall zu den kritischsten Beeinträchtigungen. Hierbei kann über Image, negative Presse oder Verantwortung gegenüber Mitarbeitern und der Gesellschaft referiert werden. Wenn man sich auf die Ergebnisse des Erprobungsprozesses reduziert, wird die Wichtigkeit der Unfallvermeidung ohne weitere Argumente klar. Jeder Unfall gefährdet und vernichtet Erprobungsergebnisse. Eine Erprobung ohne Ergebnis hat aber keinen Sinn. Damit ist nur aus der Prozessbetrachtung klar, dass die Vermeidung von Unfällen eine wesentliche Aufgabe ist.

Wer muss sich mit präventiver Unfallvermeidung beschäftigen?

Die präventive Unfallvermeidung ergibt sich meiner Meinung nach aus den Pflichten des Unternehmers, wenn im Unternehmen regelmäßig große Anzahlen von Fahrzeugen gefahren werden. Das bedeutet praktisch alle großen OEM und großen TIER1 mit einem regelmäßigen Erprobungsbetrieb sowie alle großen Speditionen und Paketdienste müssen präventive Unfallvermeidung betreiben.

Wie kann man Unfälle systematisch vermeiden? 

Die theoretischen Grundlagen für die systematische Unfallvermeidung werden durch die Risiko-Unfall-Theorie gelegt. Diese Theorie wurde ursprünglich im Umfeld der Luftfahrtsicherheit entwickelt. Die Hauptanwendungen sind bis heute Luftfahrt und Krankenhaus-Fehler-Management.

Die Postulate der Risiko-Unfall-Theorie sind:

  1. Aus jedem Risiko wird eine Unfall, wenn das Risiko nur häufig genug provoziert wird.
  2. Die Auswirkungen eines Unfallereignisses sind rein zufällig. Das heißt, es ist nicht vorhersehbar, ob ein Ereignis ein Beinaheunfall (englisch: Nearmiss) bleibt, nur Bagatellschäden verursacht oder katastrophale Auswirkungen hat.

In der Praxis ergeben sich daraus praktische Probleme. Viele Risiken sind im Vorfeld nicht erkennbar. Dem entsprechend ist es schwierig, diese Risiken zu vermeiden. Allerdings gibt es im Vorfeld meistens Signale, die Risiken anzeigen. Dies sind Regelverstöße, zunehmende Risikoneigung, Beinaheunfälle oder Unfälle mit Bagetelleschäden.

Bild der Risikopyramide nach der Risiko-Unfall-Theorie

Risikopyramide nach der Risiko-Unfall-Theorie

Das folgende Bild zeigt eine reale Historie aus dem Erprobungsbetrieb im Jahr 2012 der Fahrversuch Süd GmbH.

Bild Typische Vorgeschichte eines schweren Unfalls mit den bekannten Signalen, die diesen Unfall angekündigt haben

Typische Vorgeschichte eines schweren Unfalls mit den bekannten Signalen, die diesen Unfall angekündigt haben

Dieses Beispiel, das für den Mitarbeiter Gott sei dank glimpflich ausging, zeigt sehr deutlich, dass bei einer konsequenten Signalaufzeichnung frühzeitig gegengesteuert werden kann. Damit können die Risiken aus der Erprobung deutlich reduziert werden.

Was sind die wesentlichen Voraussetzungen für die Umsetzung einer präventiven Unfallvermeidung? 

Die wesentlichen Bausteine sind

  1. Offene Fehlerkultur
  2. Ergebnisoffene Ursachenforschung
  3. Erfassung aller notwendigen Daten

1. Offene Fehlerkultur bedeutet:

Fehler werden offen benannt. Fehler selbst werden nicht geahndet. Was geahndet wird , ist das Verschweigen und Verheimlichen von Fehlern.

Das bedeutet aber nicht, dass jeder machen kann, was er will. Das System ist intolerant gegenüber allen Verhaltensweisen, die der Sicherheit entgegenlaufen und gegen alle Verhaltensweisen, die die Sicherheit als Mittel zur Arbeitsverweigerung nutzen.

2. Ergebnisoffene Ursachenforschung:

Es wird keine Schuld gesucht. Es wird keine Schuld zugewiesen. Es werden alle möglichen Ursachen gesucht und benannt. In der Regel gibt es nicht nur eine Ursache.

Mögliche Quellen von Risiken sind

  • Probleme bei allen potentiellen Risiko-Verursachern (oft gibt es nicht nur einen Verursacher)
  • Probleme oder Risiken im Umfeld der Verursacher
  • Selbstüberschätzung
  • Fehlendes Risikobewusstsein
  • Drogenkonsum

In meiner Praxis waren die häufigsten Risiko-Quellen Probleme mit dem Partner oder in der Familie sowie gesundheitliche Veränderungen.

Neben den personenbezogenen Risiken, gibt es aber auch die Risiken aus der Erprobungsorganisation heraus. Beispiele dafür sind

  • unübersichtliche Streckenführungen: Als Abhilfe müssen die Strecken angepasst werden.
  • intellektuelle Überforderung der Mitarbeiter bei bestimmten Programmen: Die Programme müssen dann vereinfacht werden.
  • zeitliche Häufung von Unfällen: Die Programme müssen dann angepasst oder verlegt werden.

3. Erfassung aller notwendigen Daten:

Die Erfassung aller notwendigen Daten, die Aufschluss über Risiken geben können, ist in den EU-Ländern und hier ganz besonders in Deutschland und Österreich schwierig. Erfasst werden müssen Auffälligkeiten, Unregelmäßigkeiten, Verstöße, Beinaheunfälle, Klein- und Kleinstunfälle sowie natürlich jeder größerer Unfall.

Die Tendenzen in der Gesetzgebung der EU laufen einer sinnvollen präventiven Unfallvermeidung entgegen. Allerdings gibt zur Erfassung aller Daten, die Aufschluss über Risiken geben können keine Alternative. Der Unternehmer muss seinen unternehmerischen Pflichten nachkommen. Wir können zur präventiven Intervention nur auf die wenigen zufällige Signale zurück greifen.

In wie weit die DSGVO (Datenschutz Grundverordnung) die präventiven Unfallvermeidung unmöglich macht, werden heute weder Gerichte noch Anwälte seriös beantworten können. Eine präventive Unfallvermeidung gehört aber in großen Erprobungsbetrieben zu den Pflichten von Arbeitgebern und Betriebsräten.

Der Unternehmer hat zum Beispiel die Fürsorgepflicht für seine Arbeitnehmer. Er hat aber auch eine besondere Sorgfalts- und Schutzpflicht gegenüber der Allgemeinheit. Die Pflichten des Betriebsrates sind zwar überschaubarer. Er muss die Interessen der Arbeitnehmer wahrnehmen. Das bedeutet, der Betriebsrat hat eigentlich die präventive Unfallvermeidung zu fordern und die notwendigen Maßnahmen dafür zu unterstützen.

Wer sind die Partner für die Umsetzung einer präventiven Unfallvermeidung?

Auf Grund dieser Pflichten-Konstellation ergibt sich ein gleichlaufendes Interesse von Arbeitgebern und Betriebsräten. Die Arbeitgeber stehen gelegentlich in Verdacht, den Arbeitnehmern nicht gut gesonnen zu sein. Es macht also aus Sicht aller Parteien Sinn, mindestens die Datenerhebung und die Datenanalyse dem Betriebsrat zu übertragen.

Notwendige Personalgespräche im Rahmen der präventiven Unfallvermeidung sollten nur von psychologisch geschultem Personal durchgeführt werden. Bei der präventiven Unfallvermeidung geht es ja nicht um einen juristischen Vorgang, sondern um den Schutz von Mitarbeiter und Gesellschaft vor Risiken. Jetzt kann es natürlich sein, dass der Arbeitgeber sich von einem Mitarbeiter auf Grund der Risikoeinschätzung trennen muss. Die Ursache dafür kann der Gesundheitszustand des Mitarbeiters, regelmäßiger Drogenkonsum, sicherheitswidriges Verhalten oder Ähnliches sein.

Leider fordert zu findest in Deutschland das Arbeitsrecht vorbereitende Maßnahmen, wie zum Beispiel Ermahnungen und Abmahnungen, die einer sinnvollen präventiven Unfallvermeidung entgegen stehen. Auch aus diesem Grund ist eine Einbindung des Betriebsrates in den Prozess der präventiven Unfallvermeidung wichtig. Nach meiner Erfahrung ist spätestens, wenn den Betriebsräten klar geworden ist, dass sie ausschließlich zwischen den Interessen der unterschiedlichen Arbeitnehmer abwägen, die Umsetzung der notwendigen Personalmaßnahmen kein Problem. Hier sind dann eher die Personalverantwortlichen die Bremse vor überstürzten Entscheidungen.

Wie ist der Ablauf für die Einführung einer präventiven Unfallvermeidung?

Nach meiner Erfahrung macht es keinen Sinn, eine präventive Unfallvermeidung als fertigen Prozess einer Organisation überzustülpen. Am Anfang stehen immer Misstrauen vor der Änderung. Aus diesem Grund macht es Sinn, vor der Einführung einer präventiven Unfallvermeidung mit den zuständigen Betriebsräten und wichtigen Schlüsselpersonen Gespräche zu führen. Erst wenn der Sinn an den Schlüsselstellen verstanden ist, kann über die Umsetzung nachgedacht werden.

Am einfachsten ist die Einführung mit Hilfe von begeisterten Personen. Dabei spielt es dann keine Rolle, an welcher Stelle diese Personen sitzen. Ich halte die Bildung eines moderierten Kernteams für hilfreich. Dieses Teams stellt Regeln und Prozesse auf, die dann mit den anderen Stake-Holdern abgestimmt werden müssen. Steht der wesentliche Prozess, sollten spätestens die Mitarbeiter geschult werden, die später die Personalgespräche führen. Als Qualifikationsmaßnahmen sinnvoll sind

  • im kleinen Umfang Grundbegriffe des Arbeitsrechts
  • Grundbegriffe des Datenschutzes
  • Coaching mit dem Schwerpunkt der Vermittlung von Einsichten

 

Für Fragen, Anregungen und Diskussionen steht Ihnen der Autor gerne zur Verfügung.

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